IGOR DÖRGE

 

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Realität als flüchtige Erscheinung

Petra Wilhelmy, 2011

Eigenartig muten die Bilder Igor Dörges an, durchaus vertraut und befremdlich zugleich. Sie lassen einen so schnell nicht mehr los, prägen sich ein und fordern dazu heraus, sich intensiver mit ihnen auseinanderzusetzen. Das liegt daran, dass wir die belanglosen Motive dieser Bilder allzu gut zu kennen meinen und nun zu unserer Überraschung feststellen müssen, wie anders und neu sie uns in Dörges Kunst gegenübertreten. Sie entstammen unserer alltäglichen Lebenswelt, wir begegnen ihnen ständig und nehmen sie im realen Umfeld doch kaum wahr. Zu banal und unspektakulär erscheinen diese Objekte, zu oberflächlich und unaufmerksam ist oft unser Blick. In Dörges Bildern aber gewinnen sie an Attraktivität und wecken unser Interesse durch die ungewohnte Perspektive, mit der der Künstler sie präsentiert.

Automaten, elektrische Verteilerkästen, Müllbehälter, Verkehrschilder und Gullydeckel im architektonischen Zusammenhang sind Dörges Bildthemen, aber auch diverse Nutzfahrzeuge aus dem Bereich der Land- und Bauwirtschaft. Gelegentlich kommen Menschen in seinen Werken vor, doch bleiben sie anonym und silhouettenhaft, huschen wie körperlose Schatten durch das Bildfeld. Ihre geschäftigen Gesten, das Vorübereilen mit umgehängter Tasche oder mit Handy am Ohr, sind genauso gewöhnlich wie die Hausfassaden im Hintergrund. Trotzdem scheinen diese Figuren seltsam ungreifbar, wie Wesen aus einer anderen Wirklichkeitsdimension. Seine Ausschnitte von Fahrzeugen, Gebäuden oder Straßenkomplexen gestaltet Dörge als Komposition kontrastreicher buntfarbiger Flächen. Bei aller Gegenstandsnähe dominiert eine hauptsächlich durch das Kolorit repräsentierte gefühlsbetonte Gestimmtheit den traumhaften Charakter dieser Darstellungen.

Dörges Bildgegenstände und -figuren stehen isoliert in ihrem Umfeld. Ihre Vereinzelung weckt den Eindruck einer gewissen Kahlheit, Sachlichkeit und stillen Präsenz. Die Fahrzeuge allerdings setzt Dörge formatfüllend oder gar formatsprengend ins Bild, so dass sie es in ihrer Monumentalität beherrschen. Durch modulierte Konturen abgegrenzt und in ihrer Farbigkeit akzentuiert, behaupten sich die Dinge gebenüber ihrem Kontext als Solitäre. Igor Dörge wählt solche Objekte als Bildthema, die an sich schon einfach und kubisch gebaut sind: Quader, Blöcke, Stufen, Nischen, Ecken, Kästen, Kabinen und Behälter. Im Bild reduziert er deren blockhafte Erscheinungsweise noch einmal durch eine strenge, flächenbetonte Wiedergabe. Die schematische Umrissführung von Dörges Bildmotiven erinnert ein wenig an technische Konstruktionszeichnungen, die koloristische Gestaltung der Konturlinien jedoch, ihr lebhafter Farbwechsel und damit einhergehend ihre leicht unscharfe, vibrierende Qualität sind Ausdruck rein künstlerischer Vorstellungen.

Es ist genau dieser Gegensatz zwischen präziser Abgrenzung und einer aus farbigen Fleckenstrukturen resultierenden, formübergreifenden Diffusität, den Igor Dörge in seinen Arbeiten sucht und ausreizt. Das Exakte, Technische, Funktionale wird integriert in ein vereinheitlichendes, die Absolutheit der Einzelobjekte relativierendes Muster kontrastierender Farbflecken oder Pinselstriche. Die Differenzierung der Bildfläche in ein von der gegenständlichen Darstellung unabhängiges Geflecht farbiger Licht- und Schattenzonen spiegelt eine irreale Lichtsituation wieder, deren Rätselhaftigkeit irritiert. Je kleinteiliger die Struktur des Flächenmusters dabei ist, desto intensiver entsteht der Eindruck einer flirrenden, dynamisch aufgeladenen Helligkeit.

Die zuvor grundierte Leinwand übersät Dörge in der Art eines Flickenteppichs mit transparenten Farbflecken, die sich stellenweise überlagern und verdichten. Je nach Stimmung wählt er seine Farbtöne aus, ebenso die Art ihres Auftrags in Form kleiner oder größerer Flächen oder auch kleinteiliger, energischer Pinseltriche. Auf diesen Fleckengrund überträgt er dann in einem folgenden Arbeitsschritt seine in Vorzeichnungen entworfenen Bildmotive. Die Formen übermalt er anschließend einheitlich mit dünnen Farblasuren und lässt dabei in den Konturen und an ausgewählten Bildstellen bewusst Durchblicke auf die dynamische Untermalung frei.

Dörges Maltechnik lasierender Verschleierungen einerseits und gezielter Offenbarungen andererseits verleiht seinen Werken eine Aura des Geheimnisvollen. Punktuell blitzen Lichtsäume auf, doch widersprechen sie einer realistischen Beleuchtungssituation. Unerklärbare farbige Schattenzonen gleiten tänzerisch über die Formen hinweg und bedecken sie jeweils nur partiell. Obwohl die gegenständlichen Motive in ihrem Aufbau konstruktiven Gesetzmäßigkeiten unterliegen und dadurch Stabilität und Festigkeit aufweisen, verlieren sie aufgrund ihrer koloristischen Behandlung optisch an Substanz, werden leicht und flüchtig. Die Wandelbarkeit unserer Eindrücke und Seelenzustände und die Vergänglichkeit unserer Existenz kommen darin zum Ausdruck.

Künstlerisch gestaltet erreichen in den Bildern Igor Dörges funktionale Dinge unserer urbanen Umgebung, die wir oftmals als störend oder gar hässlich empfinden, eine ungeahnte Faszination. Dass Dörge immer wieder gleiche oder zumindest sehr ähnliche Motive in Form, Ansicht, Bildausschnitt und Farbwahl auf vielfältige Weise serienmäßig variiert, zeigt seine Bandbreite an Möglichkeiten ästhetischer und emotionaler Interpretationen, ohne dabei einer stupiden Monotonie zu verfallen.

Mit seinen thematischen Bildserien steht Igor Dörge in einer Tradition, die bis zu Monets berühmten Variationen der Kathedrale von Rouen oder anderer Motive zurückreicht. Während Monet in seinen Impressionen von realen Farb- und Lichtverhältnissen zu einer bestimmten Uhrzeit vor Ort ausging und die Stimmung genau dieser erlebten Situationen malerisch umzusetzen versuchte, verzichtet Igor Dörge auf eine systematische künstlerische Bearbeitung objektiver äußerer Bedingungen. Er geht rein intuitiv vor, nimmt allein seine persönlichen Emotionen zum Anlass seiner bildnerischen Deutungen der Wirklichkeit.

Eine ähnliche patchworkartige Zusammenfügung einzelner Kompartimente mit vibrierenden Konturen und changierenden Farb- und Lichteffekten wie in den Gemälden und Druckgraphiken kennzeichnet auch die langen, schlanken Plastiken Igor Dörges. Viereckige Formteile aus Stahlblech sind so zusammengeschweißt, dass die unregelmäßig wirkenden Verbindungsnähte lineare Zäsuren aufgereihter Lichtreflexe markieren und aus dem Verziehen und Verbeulen des Materials eine lebendige Oberflächenbewegung resultiert. Durch Erhitzen des Stahlblechs kommen Farbspiele zustande, die zwischen metallisch schillernden Violett-, Blau- und Grüntönen fließend wechseln.

Auch in seinen Plastiken vermeidet Dörge eindeutige, schnell erfassbare Wesenszüge. Den architektonischen Grundcharakter des präzise konstruierten Aufbaus unterwandert er durch diverse Faktoren: Torsionen innerhalb des Formverlaufs, Zunahme des Volumens nach oben, seitlliche Verlagerung des Schwerpunktes innerhalb der Vertikalachse und die Eigenschaft des Gestauchten und in Form Gepressten. Die plastischen Objekte gewinnen dadurch an spannungsvollem Schwung und rhythmischer Eigendynamik. So sind auch diese Werke Ausdruck freier künstlerischer Gestaltungsideen. Andeutungen möglicher Funktionalität und Qualitäten des Zweckfreien, Unerwarteten und Ästhetischen fallen in ihnen zusammen. Körperhafte Präsenz und Metamorphose der Erscheinungsform sind untrennbar verknüpft.

 

next zum Text von Ursula Herrndorf, 2006